Reisebericht Transkarpatien, 29. Mai bis 2. Juni 2025 Dagmar und Bernward Bickmann, Stefanie Keilig

Am frühen Morgen des 29. Mai machten wir uns auf den Weg in die Ukraine. Nach einer von Regen und Staus erschwerten Fahrt erreichten wir Ostungarn am Abend. Dank der guten Kontakte von Laszlo konnten wir an der ungarisch-ukrainischen Grenze an der Auto-Warteschlange vorbeifahren. Uns fiel Laszlos Nervosität beim Grenzübertritt auf – ungewohnt bei ihm, der sonst sehr souverän auftritt und auch in schwierigen Situationen noch Humor aufbringt.    

Im Gemeindehaus wurden wir von Ewa und Irinka herzlich empfangen – mit offenen Armen und reichem Essen. Die Gespräche am Abend waren intensiv: Noch immer verstecken sich viele Männer – auch uns bekannte Freunde - aus Angst vor Einberufung. Viele verlassen ihr Zuhause nur zur Arbeit. Felder bleiben unbestellt, weil Arbeit im Freien ein Risiko ist. Handwerker arbeiten nur noch in Innenräumen. Die Rekrutierung findet offenbar gezielt auf offener Straße statt, (noch?) nicht in Betrieben und Wohnungen.    

Die evangelische Gemeinde, die wir seit vielen Jahren begleiten, leidet unter dem Krieg und der Abwanderung. Auf 20 Beerdigungen kommt eine Taufe. Im Gottesdienst am Sonntag werden lediglich zwei Konfirmandinnen eingesegnet, im nächsten Jahr wird man überhaupt keine Konfirmanden mehr haben.  Schulen müssen wegen Schülermangels schließen, was wiederum Lehrer gefährdet: Nur aktive Lehrkräfte sind vor Einzug sicher.

Die Einwohnerzahl der Ukraine ist nach Schätzungen inzwischen auf 25 Millionen gesunken – nur noch etwa die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung. Diese Zahlen basieren auf Verkaufsdaten von Brot und Auswertung von Handydaten. 10 Millionen der verbliebenen Menschen sind Rentner, was das Rentensystem noch mehr an seine Grenzen bringt als bisher. 60% der Menschen erhalten eine Rente von umgerechnet 75 Euro im Monat (Durchschnittsgehalt 2025: 510 €). Davon können sie nicht einmal die Kosten für Energie und Strom bezahlen. Medikamentenpreise sind unerschwinglich – deshalb ist unsere diesbezügliche Hilfe riesengroß.

Altersheime existieren staatlicherseits nicht, nur kirchliche Einrichtungen leisten in diesem Bereich noch Hilfe, auch bei der häuslichen Kranken- und Altenpflege – durch ehrenamtlich tätige Gemeineschwestern.

Das ukrainische System der Versorgung alter Menschen beruht auf der Sorge und Solidarität der Familien. Deshalb können die Renten so niedrig sein.  Aufgrund der Tatsache, dass viele junge Familien das Land verlassen, funktioniert dieses System nur noch sehr begrenzt.

Olga, Augenärztin in der städtischen Kinderklinik erhält 150 € Rente und arbeitet jetzt weiter, so lange sie kann.

Unsere Fahrt durch die Region und die Stadt zeigte uns viele renovierte, aber leerstehende Häuser – geflüchtete Familien aus dem Osten des Landes haben ihr Geld in Immobilien investiert, da sie ihr Vermögen nicht ins Ausland transferieren konnten. Daneben stehen Häuser im Verfall –   die Kluft zwischen Arm und Reich wächst sichtbar.

Täglich werden gefallene Soldaten beerdigt – früher waren das bedeutende Ereignisse, immer waren offizielle Vertreter dabei, die Gefallenen wurden als Helden gefeiert. Jetzt finden diese Beerdigungen oft still und ohne Anerkennung statt.  

Witwen erhalten nur Unterstützung, wenn der Tod ihres Mannes eindeutig bestätigt ist. Wird jemand nur vermisst, bleibt die Familie mittellos.

Die Zahl der Deserteure wird offiziell mit 250.000 angegeben – tatsächlich liegt sie wohl deutlich höher.

In Munkacs wurden vor kurzem drei Raketenangriffe auf Umspannwerke abgewehrt, zwei Raketen wurden vor Zielerreichung abgeschossen, eine abgelenkt.

Waffenlieferungen aus dem Westen erfolgen inzwischen kaum mehr per Zug (früher u.a. über Munkacs), sondern dezentral über LKWs, um Angriffsziele zu streuen.

Im Medical Center, das derzeit monatlich 3000 Patienten behandelt (früher waren es 5000) konnten wir das neue CT-Gerät besichtigen, das auch mit Unterstützung unseres Lions-Clubs angeschafft werden konnte. Es war eine langwierige und schwere Entscheidung, ob man angesichts der Kriegssituation mit der schrumpfenden Bevölkerung eine solche Investition noch einmal wagen sollte. Da das MC aber die einzige Institution in der Region ist, die eine solch differenzierte Diagnostik anbietet, haben sie sich dafür entschieden („Leuchtturm“). Die Personalsituation ist zeitweise kritisch.

Wir erfahren von dramatischen Einzelschicksalen – etwa einer   Grenzbeamtin, bei der im Medical Center ein Brustkrebs diagnostiziert wurde. Sie musste, bevor sie sich in Therapie begeben konnte, erst ihre Dienstzeit von weiteren 8 Monaten ableisten, um rentenberechtigt zu sein.  

Bewegend war unser Besuch im Kinderheim. Dort leben derzeit fünf Kinder im Alter zwischen fünf und siebzehn Jahren, zwei davon konnten adoptiert werden.  Die wirtschaftliche Situation ist schwierig. Die laufenden Kosten (100 Euro Strom, 200 Euro Gas im Winter, 25 Euro Wasser/Monat) sind hoch. Deshalb arbeitet der Ehemann der Heim-Mutter mittlerweile in Ungarn. Die Jüngsten wurden als Babys von ihrer leiblichen Mutter im Krankenhaus zurückgelassen. Die Heim-Mutter versucht, mit bescheidensten Mitteln Geborgenheit zu schaffen. Die Kinder sind dankbar und obwohl sie wissen, dass ihre leibliche Mutter noch lebt, sagen sie: „Gott hat uns eine neue Mutter gegeben, wir sind gesegnet.“ Probleme bereitet die Inflation, die offiziellen Zahlen sind besser als die tatsächlichen.

Noch immer werden viele Kinder im Hospital zurückgelassen, sie kommen dann in staatliche Heime, die Zustände dort sind, so wurde uns berichtet „ganz, ganz, ganz entsetzlich.“

Auf dem Markt in der Stadt sehen wir eine auffällige Verschiebung: Während deutlich mehr professionelle Händler Waren anbieten, werden jene, die kleine Mengen aus dem Garten verkaufen, an den Rand gedrängt. Sie sitzen mit Körbchen und Schüsseln am Straßenrand oder bieten ihre Ware auf der Kühlerhaube ihres Autos an.  Eine alte Frau hatte zum Beispiel einen einzigen Becher Walderdbeeren anzubieten.

Laut Aussage von Gesprächspartnern erzeugen städtische Entwicklungen in Munkacs Spannungen: Die Zahl der Polizisten hätten sich verdreifacht, neue Dienstwagen würden angeschafft. Polizeigebäude und militärische Einrichtungen sind frisch renoviert – während es an der Front an allem  fehle. Die vielen Apotheken bilden ein System gegenseitiger Korruption zwischen Ärzten und Händlern – ein offenes Geheimnis.

Das kurze Gespräch mit dem katholischen Bischof des Bistum Munkacs zeigte die tiefgreifende Hoffnungslosigkeit in der Gesellschaft. Auch in die politisch Handelnden, egal aus welchem Land, setzen sie keine Hoffnungen, das schließt für den katholischen Bischof auch die Bemühungen des Papstes mit ein.

Der Besuch bei guten Freunden führt uns deutlich vor Augen, wie dauerhaft bedrückend die Angst ist, in der viele Familien leben. Wenn der Hausherr morgens das Haus verlässt, wissen weder er noch seine Frau und die Kinder, ob er am Abend zurückkommt. Diese ständige Ungewissheit, das Leben in einem Ausnahmezustand auf Dauer, ist für uns kaum vorstellbar – und wird doch von unzähligen Menschen Tat für Tag ausgehalten. Ein Leben in der Schwebe, das viele belastet bis an die Grenze ihre seelischen Kräfte.

Umso tröstlicher war ein ruhiger Abend bei Pal und Jolika, bei dem politische Themen und der Krieg bewusst ausgeklammert wurden – ein kleines Innehalten im Ausnahmezustand. Ebenso der nächste Abend im Garten von Laszlo und Olga.

Auf der Fahrt nach Peterfalva ins reformierte Internat passierten wir zwei militärische Checkpoints. Soldaten mit Gewehren kontrollierten unsere Pässe. Entlang der ungarischen Grenze sehen wir hohe Zäune, die Fluchten verhindern sollen – auch das ein neues, bedrückendes Bild. Der Krieg ist überall, auch in der täglichen Routine, die Normalität suggeriert.

Im evangelisch-reformierten Internat in  Peterfalva nahmen wir an der Schuljahresabschlussfeier teil – ein bewegender Moment. Die Verabschiedung der Abschlussklasse war voller Tränen, auch die Klassenlehrerin kämpfte mit den Emotionen. Alle Jungen der Klasse werden direkt ins Ausland zum Studium oder zur Ausbildung gehen. Die nachfolgende Klasse besteht fast nur noch aus Mädchen. Der Schulleiter stellte uns in der großen Feierrunde vor und erinnerte an all die Unterstützung, die wir in den letzten Jahren geleistet haben: Möbel, Dachsanierung, Küche, Notstromgenerator, regelmäßige finanzielle Hilfe. Die neue Direktorin, eine Mathematik- und Physiklehrerin, zeigte sich engagiert. Noch ist die Schule in Peterfalva stabil – viele andere mussten bereits schließen.

Am Sonntag nahmen wir am Gottesdienst mit Konfirmation teil – nur zwei Mädchen wurden eingesegnet. Die 80jährige Ärztin Irina, die wir dort trafen, sprach mit uns über die Sorge um ihren Sohn und ihren Enkel, der nun nach Estland gehen wird – wahrscheinlich werde sie ihn nie wiedersehen. Nach dem Gottesdienst kamen – ungewohnt zahlreich – Gemeindeglieder auf uns zu, dankten uns für unseren Besuch, baten uns, im Herbst wiederzukommen. Auch ohne Hilfsgüter. Allein unsere Präsenz wurde als Trost empfunden – als Zeichen, dass ihre Not gesehen wird. Beim anschließenden Mittagessen mit dem Kirchenvorstand spürten wir dasselbe: Es zählt nicht nur, was wir bringen – es zählt, dass wir da sind.

Was uns über all die Tage hinweg begleitet, ist eine spürbare Veränderung in der Atmosphäre: eine Erschöpfung, ein zunehmender Mangel an Hoffnung, ein tiefsitzender Vertrauensverlust in die Zukunft. Nicht nur in den Gesprächen, auch in Gestik und Tonfall spüren wir, sie sehr die Menschen ausgelaugt sind.

Unsere Rückfahrt führte uns wie immer über Budapest, wo wir übernachteten. Die Ausreise aus der Ukraine benötigte über zwei Stunden, obwohl wir relativ weit vorne in der Warteschlange standen. Bei ukrainischen Staatsbürgern wird insbesondere bei Männern unter 60 die Rekrutierungspflicht im Rahmen der Passkontrolle geprüft. Alle werden von der Militärpolizei, dem Zoll und den Grenzbeamten kontrollert.

Am Montag, dem 2. Juni, erreichten wir gegen 18:30 Uhr wieder Hanau, gegen 22.30 Uhr Aachen – körperlich zurückgekehrt, innerlich mit vielen Eindrücken und Begegnungen beschäftigt.

Damit wir auch weiterhin helfen können, sind wir auf   Unterstützung angewiesen – Spenden sind willkommen auf das Konto des Fördervereins des Lions Club Hanau Am Limes bei der Sparkasse Hanau:

IBAN DE47 5065 0023 0000 1396 67

Friedhof in Mukachevo mit vielen Soldatengräbern